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Mein Leben ist ein Ponyhof!

oder: Wieso der Heiligenschein in der Ecke hängt.

„Geliebt wird, was kommt!“

Finja 2016-4-webVor 8 Jahren um diese Zeit schien die Welt einfach perfekt: Mein 4 Wochen altes Baby lag in meinem Arm, die dreieinhalbjährige Schwester kümmerte sich rührend – ein ganz normales Familienleben mit zwei gesunden Mädchen schien vor uns zu liegen.

Wie hatten wir uns geirrt! 10 Wochen später war nichts mehr „normal“. Die Diagnose Down-Syndrom riss es uns den Boden unter den Füßen weg! Die Welt schien ein düsterer und unsicherer Ort zu sein.

In jener Zeit schickten freundliche Menschen mir die Geschichte von „Holland“ zu, die Emily P. Kingsley Ende der 1980er Jahre über das Leben mit ihrem Sohn verfasste, der ebenfalls mit Down- Syndrom geboren wurde. Eine sehr lesenswerte Geschichte, die Mut machte und uns die Ärmel hochkrempeln ließ: Wir würden es schaffen.

Hatten wir nicht in der Schwangerschaft immer gesagt: „Geliebt wird was kommt!“ und damit die Angebote der Pränataldiagnostik abgelehnt? Nun würde sich beweisen, ob das stimmte. Was das Leben mit Down-Syndrom uns bringen würde – wir wussten es nicht! Aber wie sagt man so schön: Das Leben ist kein Ponyhof.

Glückwunsch – sie erben einen Ponyhof!“

Wieder hatten wir uns geirrt. Es stellte sich heraus: Das Leben IST ein Ponyhof. Meines zumindest. Für mich ist es nicht so als wären wir in Holland statt Italien gelandet um Urlaub zu machen, sondern eher als hätte man plötzlich und unvermutet einen Ponyhof geerbt. Ohne Ahnung von Ponys, ohne an körperliche Arbeit oder an die damit verbundene Bürokratie gewöhnt zu sein.

Plötzlich manage ich ein Mini-Unternehmen mit einer Vielzahl von Mitarbeitern. Klar – es sind keine Pferdepfleger, keine Reitlehrer, Tierärzte oder Putzhilfen. Stattdessen koordiniere ich Therapien, organisiere Arztbesuche, bespreche mich mit Fachleuten und Erziehern.

Ich musste mir kein Pferdewissen aneignen – stattdessen habe ich tonnenweise Bücher über Down-Syndrom gelesen, mich in Elternforen schlau gemacht und mich mit dem deutschen Sozialgesetz beschäftigt.

Und genau wie bei Ponys oder Babys ist der Zeitplan und die Bedürfnisse eines Kindes mit Down-Syndrom in keinster Weise verhandelbar. Zumindest nicht, solange der geistige Entwicklungsstand kein „Wenn-Dann“ oder „Erst-dies-dann-das“ und somit das Aufschieben von Bedürfnissen möglich macht.

Ja – wir brauchen als Pflegepersonen einer 8jährigen, die denselben pflegerischen Bedarf hat wie ein zweijähriges Kind, auch Muskelkraft. Aber vor allem haben wir „seelische Muskeln“ entwickelt: Die Fähigkeit Unsicherheit auszuhalten, chaotische Situationen mit Humor zu nehmen, Krisen zu bewältigen.

Vor allem aber: Ähnlich wie bei pferdebegeisterten Menschen tritt man mit der Geburt seines Down-Kindes in eine Community von Leuten ein, die ein ganz ähnliches Leben führen. Die alle die Liebe zu ihrem Kind mit Down-Syndrom verbindet und die gemeinsam einen großen Schatz an Sachwissen und Lebenserfahrung teilen.

Auch wenn wir völlig unterschiedlich sind und oft inhaltlich erbittert über die Vorzüge und Nachteile dieser oder jener Therapie streiten mögen, so gibt es doch immer mehr, das uns verbindet, als Dinge die uns trennen.

Als wir unvermutet unseren „Ponyhof“ geerbt haben, sagten uns diese Menschen: „Ihr schafft das!“.

Es ist schmutzig, es ist anstrengend. Man muss viele Dinge lernen von denen man nie was gehört hat und dieses Leben fordert Sachen von einem, die manchmal unbequem sind. Wir fallen manchmal abends ins Bett und sind einfach fix und fertig vom Tag.

Und genau wie im Ponyhof geht es erstmal darum, dass die Ställe in Ordnung sind. Wenn es unserem besonderen Kind nicht gut geht, dann leidet die ganze Familie. Aber wenn alles organisiert ist und wie gewohnt ablaufen kann, dann ist es eigentlich gar nicht so schlimm!

Wenn die Routine läuft, jeder weiß worum er sich wann kümmern muss, genügend Hilfe engagiert wurde, damit keiner unter der zusätzlichen Arbeit zusammenbricht, dann kommt man dazu sich umzuschauen und versteht: So ein Ponyhof ist eigentlich eine tolle Sache!

Der Stress der Welt in der wir vorher gelebt haben scheint uns nun so fern! Unser Leben dreht sich nicht mehr um Karriere und Erfolg, sondern um Zufriedenheit und Wohlbefinden. Der Lebensrhythmus ist langsamer.

Aber man hat Zeit. Zeit dem Kind beim Wachsen zuzusehen. Zeit Dinge auszuprobieren. Zeit füreinander da zu sein. Und man sieht, was wirklich wichtig ist. Mit unserem Down-Mädel erleben wir ursprüngliche Freude, spontane Begeisterung, sehr viel Ruhe und Erdung.

Katastrophen aber auch Erfolge sind existenzieller. Und der Zusammenhalt innerhalb der Community trägt. Doch auch innerhalb unseres „Ponyhofs“ packen alle mit an. Wenn es brennt sind sie alle da: Freunde, Großeltern und auch der engste Familienkreis packt an. Unsere „Große“ kümmert sich immer noch rührend um ihre Schwester. Und inzwischen ist der „Kleine“ dazugekommen und als eingeborener Einwohner unseres Ponyhofs geht er mit einer Selbstverständlichkeit mit den Besonderheiten seiner behinderten Schwester um, die bewundernswert ist.

Zugegeben: Die Anfangsjahre sind schwierig. Man muss sich in eine neue Welt einleben. Aber irgendwann stellt man fest: Ich hab mich verändert! Wie aus einem Stadtmenschen eine Landmensch werden kann, wie sich die Einstellung zum Leben und die Fähigkeiten und Ressourcen entwickeln können, so ist es auch bei uns geschehen.

Und irgendwann stellt man fest: Dieser Ponyhof, der mir so ungewollt in den Schoß gefallen ist, ist mein Zuhause geworden. Und ich liebe ihn.

Die Sache mit dem Heiligenschein

Es gibt diese Idee, dass „besondere Kinder“ sich „besondere Eltern“ aussuchen. Oder dass Gott behinderte Kinder nur den „besonderen Eltern“ schenkt, die mit ganz besonderen Fähigkeiten ausgestattet sind, damit sie diese „Last“ tragen können.

Mit der Geburt eines behinderten Kindes wird einem heutzutage ein Heiligenschein verpasst. Denn wir hatten ja die „Wahl“: Wir leben freiwillig ein Leben, das anderen schwer zu sein scheint. Nur Leute, die etwas „ganz Besonderes“ sind können das angeblich bewältigen.

Wenn ich Menschen von unserem Leben erzähle, heißt es oft: „Ich könnte das nicht!“ oder „Wie du das schaffst!“. Man muss offenbar eine Heilige sein um ein behindertes Kind zu gebären und großzuziehen.

Aber das stimmt nicht! Wir waren ganz normale Menschen, wie jeder andere da draußen, als das Schicksal uns in dieses Leben geworfen hat. Wir hätten jammern können. (Und wir haben gejammert!). Wir hätten scheitern können. (Aber wir sind nicht gescheitert).

Wir hatten keine „gottgegebenen Gaben“, die uns in besonderer Weise befähigt hätten, dieses Leben zu leben. Wir tun, was getan werden muss. Wir sind hineingewachsen. Wir haben zusammengehalten. Wir haben gelernt. Wir wurden vielleicht zu „besondere Menschen“.
Und wissen Sie was? JEDER kann das!

Jeder, der den Jakobsweg geht, wird sich verändern: Wird Muskeln aufbauen, seinen Geist und seine Haltung schulen, jeden Tag ein Stück weiter gehen können oder seinen Rucksack leichter tragen.

Jeder, der einen Ponyhof erbt, wird Mist schaufeln und früh aufstehen und lernen mit Gewerbeamt und Vorschriften umzugehen.

Und jeder, der ein Kind mit Down-Syndrom bekommt wird herausfinden, was dieses individuelle Kind benötigt, wird Menschen finden, die ihn unterstützen und lernen Unsicherheit auszuhalten.

Es braucht keinen Heiligenschein, keine besonderen Fertigkeiten, keine besondere Belastbarkeit um Herausforderungen zu bewältigen. Nur den Mut anzufangen. Die Bereitschaft zu lernen. Den Willen es zu schaffen. Und das kann wirklich jeder.

Mein Heiligenschein hängt irgendwo im Stall an einem Haken. Manchmal hole ich ihn raus, poliere ihn und freue mich daran. Es ist schön für „etwas Besonderes“ gehalten zu werden. Es tut gut, hin und wieder zu hören, dass allein die Tatsache, dass man diese Herausforderung angenommen hat etwas „Heiliges“ ist. Und das ist es irgendwie auch. Etwas, das heil-sam ist. Etwas, das zutiefst die Würde des Menschseins verkörpert.

Aber im Alltag geht’s nicht um das Heilig-Sein. Im Alltag tun wir einfach das, was getan werden muss. Weil es richtig ist. Weil wir unser Kind lieben. Und weil wir es können.

Und wir können es, weil wir da hineingewachsen sind. Weil wir Menschen sind. Und weil Menschen in der Lage sind, sich an ihre Lebensumstände anzupassen und Herausforderungen zu bewältigen.

Und das – ist auch schon das ganze Geheimnis.

Marion Mahnke

zum Welt-Down-Syndrom-Tag 2016